Institut für Germanistik

Kain, Franz: Romeo und Julia an der Bernauer Straße (1955)

Berlin: Aufbau-Verl. 1955.

 

Textporträt herunterladen

Franz Kains kurze Erzählung adaptiert den Romeo und Julia-Stoff sehr frei, insbesondere konzentriert er sich dabei auf das Motiv der verfeindeten Familien, deren Feindschaft durch die bi-polaren Spannungen des Kalten Krieges im geteilten Berlin vor dem Bau der Mauer bedingt ist. In einem entscheidenden Punkt weicht Kain vom Original ab: Am Ende der Erzählung steht nicht der tragische Liebestod, sondern die Überlegenheit des Kommunismus über den Kapitalismus. Der Text erzählt weniger die Geschichte einer tragischen Liebesbeziehung, vielmehr stellt er die sozioökonomischen Vorzüge eines Lebens im Osten und die Konversion der Julia zur „richtigen“ Seite in den Mittelpunkt.

Die Handlung der Erzählung ist einfach gehalten; es wird eine politische Geschichte in Form einer Liebesgeschichte erzählt, auch wenn der Text das genaue Gegenteil suggeriert. In einem Tanzlokal in Ostberlin lernen sich die siebzehnjährige Helga Kowalski und der zwanzigjährige Heiner Schradow kennen, die in ihrer sich anbahnenden Liebesbeziehung durch den Systemkonflikt eingeschränkt werden. Ihre Väter sind ehemalige Freunde, die durch den Kalten Krieg entzweit worden sind und für den jeweils der andere das feindliche System personifiziert. Max Kowalski wohnt auf der Nordseite und Paul Schradow genau gegenüber auf der Südseite der Bernauer Straße. Beide waren in derselben Sektion der sozialdemokratischen Partei organisiert und hatten in derselben Fabrik (AEG Brunnenstraße) gearbeitet. Jedoch wechselte Schradow nach der Vereinigung der Arbeiterparteien in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) zu dieser, wurde von der AEG entlassen und verdächtigt Kowalski, der in der alten Partei geblieben ist und dort als Betriebsrat fungiert, schuld daran zu haben. Kowalski ist zwar gegen das politische System im Osten und lässt keine Gelegenheit aus um dagegen zu polemisieren, konsumiert aber – wegen der niedrigeren Preise – im Osten Bier und Schweinekotelett. Zuletzt schlägt bei einem zufälligen Aufeinandertreffen der antikommunistische Kowalski Helgas Vater mit einem Bierglas nieder und wird von der Volkspolizei verhaftet. Heiner und Helga machen sich am Ende der Erzählung in Richtung Osten auf, um am Aufbau des neuen Gesellschaftssystems mitzuwirken.

Durch ihre Zuneigung werden die beiden Hauptfiguren Helga und Heiner für den Kommunismus und dessen neues Gesellschaftssystem sensibilisiert. Heiner, der zunächst nur als ein unpolitischer Arbeiter beschrieben wird, beginnt die Vorteile der SBZ bzw. DDR, die der Text nie namentlich nennt, gegenüber dem Westen zu erkennen. Ebenso Helga, die sich zunächst noch über den Osten in spöttischen Äußerungen ergeht, jedoch dann die Überlegenheit dieses Systems gegenüber dem Kapitalismus anerkennen muss, v. a. wegen ihrer Arbeitslosigkeit und den billigeren Lebensmitteln im Osten. Der Westen erfährt eine umfassende Kritik (Arbeitslosigkeit, Devisenschmuggler, Bereicherung des Westens auf Kosten des Ostens), die propagandistische Ausmaße annimmt. 

Aufschlussreich ist, dass Kain als zentrales Symbol für die Teilung Berlins die Bernauer Straße aufbaut, an welcher ab August 1961 die Mauer verlaufen sollte. Mit seiner einführenden Schilderung der Straße impliziert er den Systemkonflikt sehr geschickt, ohne ihn beim Namen nennen zu müssen. Vielmehr spricht der Text von einer „neuen“ und einer „alten Ordnung“. Im Text wird Alltägliches, etwa Einkauf und Konsum von Lebensmitteln sowie die Berufstätigkeit der Figuren mit den Konstellationen des Kalten Krieges in Zusammenhang gebracht. 

Zitierbar als: Stefan Maurer: Franz Kain, Romeo und Julia an der Bernauer Straße (1955). kk-diskurse.univie.ac.at

 

Institut für Germanistik | FWF-Projekt „Diskurse des Kalten Krieges“ (Projektnummer P 22579-G20)  | Universität Wien  | Universitätsring 1  | A-1010 Wien