Im Mittelpunkt von Rudolf Henz’ Die Nachzügler steht der ungarische Geschichtsprofessor Stefan Nagy, der nach dem „Ungarischen Volksaufstand“ 1956 in den Westen flüchtet. Der Roman vereinigt Elemente des Kriminalromans, aber vor allem des Zeit- und Gesellschaftsromans, wobei insbesondere der Figur des Flüchtlings symbolische Bedeutung zukommt. In Nagys Aufzeichnungen, die teilweise tagebuchartigen Charakter annehmen, spiegelt sich die äußere Handlung des Romans wider, ergänzt durch kulturkritische Überlegungen, die sowohl den Westen, als auch den Osten betreffen. Dabei kommen tagespolitische, aber auch Fragen zur Sprache, die die Religion und Kirchenpolitik betreffen. Nagy erzählt auch von seinem Leben vor der Flucht. Aufgrund des Verbots der kommunistischen Machthaber an der Hochschule zu lehren, arbeitet Nagy an einem geheimen Manuskript mit dem Titel Die Nachzügler. Darin will er den Beweis antreten, dass „der Marxismus hinter der tatsächlichen Entwicklung der Menschheit hoffnungslos zurückgeblieben sei“ (NZ 2) und bezeichnete jene Intellektuellen in Ost und West mit diesem Begriff, die überholte Anschauungen und Lehren predigen und noch in der Fortschritts- und Zukunftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts gefangen sind.
In Österreich findet Nagy Aufnahme bei dem pensionierten Gymnasialdirektor Roland Gstettner und in den höheren Kreisen Wiens. Es stellt sich heraus, dass Nagys Flucht eng mit seinem Sohn Ferencz, der beim Aufstand an der Seite von General Pal Maleter gegen die Sowjetunion gekämpft hat, und seinem Manuskript über die „Nachzügler“ zusammenhängt. Zunächst geht Nagy davon aus, dass ihn sein Sohn an die AVO verraten hat, im Laufe des Romans stellt sich jedoch heraus, dass Ferencz vom Regime hingerichtet worden ist, er stirbt für seinen Glauben.
Nagys Ehefrau Erzebeth ist bereits vor dem „Ungarischen Volksaufstandes“ nach Wien geflüchtet, aber erst bei einer Wallfahrt nach Mariazell kann er sie dort ausfindig machen. Der Wallfahrtsort in der Obersteiermark, der für viele Katholiken der östlichen Nachbarländer von großer Bedeutung war, spielt im weiteren Handlungsverlauf eine zentrale Rolle. Der katholische Glauben erfüllte im Kalten Krieg auch die Funktion, diesen globalen Konflikt als einen Glaubenskrieg zwischen den Gottesfürchtigen und den Gottlosen zu inszenieren. Erzebeth plant, sich gemeinsam mit Dr. Szekely, der sich als Journalist des amerikanischen Senders „Radio Free Europe“ ausgibt, aber letztlich als Spion und Menschenräuber entlarvt wird, nach Deutschland abzusetzen. Nagy verdächtigt darüber hinaus einen gewissen Dr. Molnar ein Spitzel des ungarischen Regimes zu sein und fürchtet sich vor einer Verschleppung. Wieder nach Wien zurückgekehrt, leidet er immer mehr unter Verfolgungswahn und landet schließlich in einer psychiatrischen Anstalt, wo er eigentlich eine Art „Schutzhaft“ gegen die Verschleppung hätte antreten sollen. Zuletzt lebt Nagy mit Erzebeth in der Hietzinger Villa des – inzwischen verstorbenen – Gstettners und plant einen Neubeginn in der „freien Welt“.
Der Text verdeutlicht nicht nur die Rolle, die der Religion im Kalten Krieg zukam, sondern konstruiert in der Figur von Stefan Nagy eine Synthese aus Antikommunismus und Katholizismus. Henz setzt den zentralen Schauplatz Mariazell nicht aus Zufall, sondern verlässt sich auf die Konnotationen, die der Wallfahrtsort bei zeitgenössischen Rezipienten hervorrufen musste. Denn die Bedeutung Mariazells wuchs ab 1948 für die Gläubigen hinter dem „Eisernen Vorhang“ an, als die Kommunisten die ungarische Regierung übernahmen. Für Flüchtlinge stellte der an ungarischen Erinnerungen reiche Wallfahrtsort die einzige sakrale Verbindung mit der verlassenen Heimat und dem ungarischen Katholizismus dar. Während der 1950er Jahre erstarkten der nationale Charakter und die politische Definiertheit der ungarischen Mariazeller-Wallfahrten. Nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution von 1956 gewann er noch an weiterer Bedeutung, da er der einzige von den Exil-Ungarn erreichbare „ungarische“ Wallfahrtsort in der „freien Welt“ war.
Zitierbar als: Stefan Maurer: Rudolf Henz, Die Nachzügler (1961). kk-diskurse.univie.ac.at