Institut für Germanistik

Federmann, Reinhard: Himmelreich der Lügner (1959)

München: Langen & Müller 1959.

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Der Roman spannt einen weiten zeitgeschichtlichen Bogen, der von der Ausschaltung des österreichischen Parlaments durch die Austrofaschisten im Jahr 1933 bis ins Österreich der Nachkriegszeit und zur Niederschlagung des „Ungarischen Volksaufstandes“ 1956 reicht. Die Parallelisierung dieser beiden Ereignisse rückt einen zentralen Aspekt des Textes in den Mittelpunkt: den Aufstand gegen totalitäre Systeme.

Erzählperspektive sowie Handlungsverlauf lenken den Blick auf die Kontinuitäten und Übergänge vom Austrofaschismus zum Nationalsozialismus, umfassen aber auch das Verhältnis von Austromarxismus und Stalinismus sowie die Konstellationen der österreichischen Besatzungszeit und des Kalten Krieges. Der Text verortet die Wurzeln des politischen Zustands Österreichs nach 1945 in den 1930er Jahren; quantitativ befasst sich die Hälfte des Romans mit dem Scheitern der Ersten Republik, der Errichtung des Ständestaates und der Niederschlagung des Arbeiteraufstands im Februar 1934. Aus der Perspektive des Ich-Erzählers Bruno Schindler erzählt der Roman das Schicksal von fünf sozialdemokratischen Genossen, die 1934 gegen die faschistischen Kräfte auf die Barrikaden gingen und deren weiterem politischen Schicksal. Während die Lichtgestalt, der Schutzbund-Zugführer Robert Gernhardt symbolträchtig seit den Kämpfen als verschollen gilt, macht der Parteifunktionär Karl Beranek nach 1945 Karriere als Nationalratsabgeordneter; der arbeitslose Eisenbahner Josef Chwala läuft nach der Niederlage der Sozialdemokratie zu den Nationalssozialisten über und der jüdische Physikstudent wird in einem KZ ermordet. Der Erzähler selbst, der 1934 über Brünn nach Moskau flüchtet, kehrt 1945 mit der Roten Armee nach Wien zurück und setzt sich 1949 nach Westdeutschland ab. Schindler fertigt einen wahrheitsgetreuen autobiographischen Bericht über seine politischen Enttäuschungen, die ihm sowohl Sozialdemokratie als auch Kommunismus schlussendlich sind, an. Auch deswegen ist sich Schindler bewusst, dass das Unternehmen zum Scheitern verurteilt ist, hat er den Bericht doch bereits im Jahre 1934 begonnen, schreibt ihn 1956 fort bzw. schreibt ihn um, was zur komplexen, selbstreflexiven Struktur des Romans beiträgt. Schindler, der hofft in der Sowjetunion den wahren Sozialismus zu finden, erkennt, dass er der Unterdrückung nicht entronnen ist, sondern ihr nun erst recht ausgeliefert ist. Zunächst noch protegiert durch den ehemaligen Sozialdemokraten Paul Heller, der zur KP übergelaufen ist und über Beziehungen zur Komintern verfügt, sich im Handlungsverlauf jedoch als opportunistische Figur, die sich den Machthabern andient, entpuppt, wird Schindler das Repressionssystem der 1930er Jahre unter Stalin und das Klima der Angst vor Augen geführt. Er selbst wird Opfer einer Denunziation, verhaftet und gefoltert und muss zur „Rehabilitierung“ ein halbes Jahr Zwangsarbeit leisten.

Als Schindler im Mai 1945 im Gefolge der Roten Armee nach Wien zurückkehrt, wird er als Redakteur der Armeezeitung mit den Spannungen konfrontiert, die sich im Nachkriegsösterreich durch den Kalten Krieg ergeben. Der Roman bringt historische Phänomene wie die willkürlichen Verhaftungen und Verschleppungen durch die sowjetische Besatzungsbehörde zur Sprache, aber auch Konflikte zwischen KPÖ und SPÖ wegen der USIA-Betriebe sowie die Reintegration der ehemaligen Nationalsozialisten unter dem Vorzeichen des Kampfes gegen den Kommunismus werden thematisiert. Ebenso rückt der Roman die regionalen Propagandaschlachten des Kalten Krieges ins Zentrum. Schindler erlebt die Auseinandersetzungen um vermeintliche Verräter, Saboteure und Spione zwischen westlichen und sowjetischen Medien aus nächster Nähe mit. Sein Widerwille, an den sowjetischen Lügengespinsten zu partizipieren, führt zu einer Versetzung nach Moskau, der er sich jedoch durch die Flucht nach Westdeutschland entzieht. Dort arbeitet er als Experte für ein – durch amerikanische Gelder finanziertes – „Institut für osteuropäische Fragen“ sowie als freier Journalist und kehrt erst 1956, nach dem Ende der Besatzung, nach Wien zurück, wo er über den „Ungarischen Volksaufstand“ berichten soll.

Zitierbar als: Stefan Maurer: Reinhard Federmann, Himmelreich der Lügner (1959). kk-diskurse.univie.ac.at

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