Institut für Germanistik

Dor, Milo/Federmann, Reinhard: Romeo und Julia in Wien (1954)

Güthersloh: Signum 1963.

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Der Roman, der 1954 zunächst als Fortsetzungsroman in der Münchner Illustrierten Revue erschien, wurde als Hörspiel aufgeführt und 1956 unter dem Titel Nina von Rudolf Jugert verfilmt. Die Handlung von William Shakespeares Romeo und Julia wird von den Autoren aus Verona in das viergeteilte Wien der Besatzungszeit verlegt. Der Handlungsverlauf ist Shakespeare bis hin zu Details nachkonstruiert und die Liebesgeschichte nimmt durch ein Missverständnis ein tödliches Ende. Romeo heißt mit Nachnamen Wilson und ist Zeitungskorrespondent der „New York Tide“, Julia Mischkin arbeitet für die russische Nachrichtenagentur TASS. Die verfeindeten Familien in Shakespeares Original werden hier abgelöst von den einander feindlich gesinnten Supermächten. Dor und Federmann gelingt es, eine Liebesgeschichte zu erzählen, die durch einen politischen Hintergrund schärfer konturiert wird. 

Dass die Protagonisten den jeweiligen Medien der Besatzungsmächte zugeordnet werden, ist in dieser Bearbeitung des Stoffes als besonderer Kunstgriff zu werten. Denn die von den Besatzungsmächten gelenkten Medien spielten eine zentrale Rolle auf dem Wiener Schauplatz des Kalten Krieges, die im Wettstreit um die öffentliche Meinung standen und den „Krieg der Worte“ anfachten. Dementsprechend lernt sich das Liebespaar auf einem diplomatischen Empfang kennen und reagiert irritiert auf die Staatsangehörigkeit des anderen. Propagandaklischees, wie z.B. der Kartoffelkäfer, der in der kommunistischen Propaganda eine wesentliche Rolle spielte, werden in der Rhetorik der Figuren parodiert. Major Tubaljow, hier, nicht wie im Original der Vetter Tybalt, sondern der Vorgesetzte Julias, steht einem neuerlichen Treffen im Weg. Tubaljow propagiert den Systemkonflikt in bester stalinistischer Manier und wittert eine antisowjetische Verschwörung hinter dieser Beziehung. Einer Heirat und einem gemeinsamem Leben steht der sowjetische Staatsapparat im Weg. Wie Julia erklärt würde damit ihre in Russland verbliebene Familie Repressionen ausgesetzt.

Damit fassen Dor und Federmann die prekären Zustände in den von den Sowjets besetzten Ländern hinter dem „Eisernen Vorhang“ zusammen und implizieren das Prinzip „guilt by association“, das Julia dazu veranlasst, von einer Beziehung mit Wilson abzusehen. Darüber hinaus werden die Auswirkungen auf das besetzte Österreich fassbar, dessen Osthälfte den rechtlichen und gesellschaftspolitischen Prämissen der Sowjetunion folgen musste. Bei Dor und Federmann wird die Sowjetunion, wie auch in ihren anderen Romanen, als ein bedrohliches repressives System mit einem rigiden Justizsystem und Arbeitslagern geschildert.

Die Ereignisse überstürzen sich, als Tubaljow Mark Wilson, Romeos Freund, in einem Lokal im Ersten Bezirk erschießt. Romeo, der Tubaljow in Notwehr tötet, muss daraufhin vor der Militärbehörde in die Steiermark fliehen. Ebenso wie im Original kommt es zu einem tödlichen Missverständnis: Romeo erfährt von Julias angeblichem Selbstmord, erhält aber den aufklärenden Brief zu spät. Er verunglückt mit seinem Wagen auf dem Kahlenberg tödlich. Aussagekräftig ist auch Julias Ende, welches der Text nur suggeriert, indem beschrieben wird, wie sie sich der sowjetischen Behörde ausliefert.

Der Text impliziert ein Bild des sowjetischen Rechtssystems, das durch seine manichäische Weltsicht ein nicht sichtbares, aber sinister einwirkendes Reich des „Bösen“ beschwört und eine Beziehung zwischen eigenen Staatsbürgern und dem Feind nicht zulassen kann, da diese ständig als Ziel von Verschwörung, Spionage oder Sabotage angesehen werden. Dabei wird der größte Unterschied des Textes zum shakespear’schen Original deutlich: Während dort der Liebestod als schicksalhafte Verkettung von unglücklichen Umständen lesbar ist, wird er von Dor und Federmann dem Unrechtsregime der Sowjetunion zugeschrieben.

Zitierbar als: Stefan Maurer: Milo Dor/Reinhard Federmann, Romeo und Julia in Wien (1954). kk-diskurse.univie.ac.at

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