Milo Dors novellenartig strukturierte Erzählung Salto mortale nähert sich dem für den Kalten Krieg zentralen Thema totalitärer Macht auf spezifisch literarische Weise. Dor las die Erzählung bei einem Treffen der Gruppe 47 im Oktober 1959 vor.
In Salto mortale wacht ein namenloser Ich-Erzähler an „einem ganz gewöhnlichen Tag“ (SM 7) auf und alles ist anders. Er ist in seiner vertrauten Welt ein Fremder geworden. An seinem Arbeitsplatz in der Zeitungsredaktion sitzt ein Unbekannter, der Portier, der ihn jeden Morgen begrüßt, kennt ihn plötzlich nicht mehr, auch seine Sekretärin und sein Chefredakteur verhalten sich so, als ob sie ihn noch nie gesehen hätten. Glaubt er zuerst noch an einen Scherz, sucht nach plausiblen Erklärungen für das merkwürdige Geschehen, so wird es vollends unheimlich, als ihn auch seine Verlobte nicht mehr erkennt und er in der Pension, die er am Morgen verlassen hat, nie als Mieter existiert zu haben scheint. Von der Welt der Lebenden abgeschnitten, ist der Erzähler den Mechanismen einer totalitären Gesellschaft ausgeliefert. Gegen ihn ist ein „Boykott“ organisiert worden, „diese wirksamste Maßnahme, die eine Gemeinschaft gegen zersetzende Elemente, wie ich eines war, ergreifen konnte“ (SM 27). Es stellt sich heraus, dass der Erzähler, der als Nachrichtenredakteur bei der Zeitung „Stadtanzeiger“ beschäftigt ist, sich einen Akt des Widerstands zuschulden kommen hat lassen. Gegen die permanente Konstruktion eines äußeren Feindes des namenlos bleibenden Landes, welche „die eigene Bevölkerung in einem dauernden Zustand nationaler Erregung“ (SM 30) halten sollte, hat er ausgerechnet am 1. April eine Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur auf karnevaleske Weise auf den Kopf gestellt. Für dieses Vergehen wird er mit der sozialen Auslöschung bestraft, der Erzähler weiß jedoch, wie er sich wieder rehabilitieren kann: Er will einen Arbeitskollegen denunzieren. In einem Brief unterstellt er dem Setzer des „Stadtanzeigers“ politische Subversion, indem dieser absichtliche und bedeutungsvolle Druckfehler gesetzt hätte. Der Boykott gegen den Erzähler wird nach wenigen Tagen beendet, er geht sogar in eine „öffentliche Badeanstalt“ (SM 36) um sich auch im wörtlichen Sinne rein zu waschen. Alles, was aus den Fugen geraten ist, fügt sich nun umso besser: Der Chefredakteur macht ihm das Angebot, einen großen Feuilleton-Beitrag über die Revolution zu schreiben und seine Verlobte und er wollen in eine gemeinsame Wohnung ziehen und heiraten. Die soziale Integration ist freilich damit erkauft, dass das Opfer zum Täter geworden ist, das neue Opfer kommt ums Leben und existiert nur noch in den Alpträumen des Erzählers.
Salto mortale beginnt mit einem kafkaesken Szenario und beinhaltet Momente des Absurden und Phantastischen; diese Erzählelemente erweisen sich jedoch als der inhärenten Logik des totalitären Systems geschuldet. Ohne dass sich die Erzählung explizit auf die Totalitarismustheorie bezieht, lassen sich darin einige zentrale Befunde derselben wiederfinden. So haben, wie in George Orwells Nineteeneightyfour, auch in Salto mortale die Machthaber Durchgriff auf sämtliche Lebensbereiche der Bevölkerung. Die Trennung von Politischem und Privatem ist aufgehoben, ein Phänomen, das in allen Totalitarismustheorien als zentral hervorgehoben wird. Ebenso charakteristisch für totalitäre Systeme ist der Aufbau einer ständigen Bedrohung durch äußere und innere Feinde. Auch in der Schlusspointe der Erzählung, der unerzwungenen Denunziation, schließt Dors Erzählung an die Totalitarismus-Theorien des Kalten Kriegs an. In diesen werden die Beziehungen der Menschen in einer totalitären Gesellschaft untereinander durch ein ständiges latentes Misstrauen und eine Atmosphäre beschrieben, in der jeder den anderen bespitzeln oder denunzieren kann.
Zitierbar als: Stefan Maurer: Milo Dor, Salto Mortale (1960). kk-diskurse.univie.ac.at