Institut für Germanistik

Wechsberg, Joseph: Der Stalinist (1970)

Wien [u.a.]: Molden 1970. (im Text als ST mit fortlaufender Seitenzahl zitiert)

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Joseph Wechsberg zeichnet im Roman Der Stalinist, der bereits 1954 unter dem Titel The Self-Betrayed erschien, das Psychogramm des linientreuen Stalinisten Bruno Stern. Dessen Karriere wird aus der Perspektive des Ich-Erzählers Jacques Willert dargestellt. Der Roman ist in einer nicht näher bezeichneten k.u.k. Industriestadt in Mähren (vermutlich Mährisch-Ostrau) angesiedelt und spannt ein großes zeitgeschichtliches Panorama auf, das mit dem Jahr 1919 einsetzt und bis Ende der 1940er Jahre reicht. Die Erzählstruktur des Romans ist dabei jedoch eher elliptisch und gerafft. In der zweiten Hälfte des Romans, welche die Nachkriegszeit behandelt, steht der Besuch Willerts in seiner ehemaligen Heimatstadt, die nun Hauptstadt des kommunistischen Regimes geworden ist, im Mittelpunkt. Hinsichtlich der elliptischen Struktur ist zu bemerken, dass der Ich-Erzähler seinem persönlichen Schicksal während des Krieges nur wenige Seiten widmet, während seine Aufmerksamkeit ganz auf den politischen Aufstieg Sterns gerichtet ist, die er Zeitungsberichten der Prawda und der Iswestija entnimmt. Seine Tätigkeit als Journalist und Schriftsteller, - er geht bereits einige Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach New York, um dort zu arbeiten -, wird nur angedeutet.

Stern, der bereits in seiner Adoleszenz von Karl Marx und Friedrich Engels fasziniert ist, später Reden für Bergleute hält und zunehmend zum fanatischen Kommunisten avanciert, wird zum Anschauungsobjekt einer Faszinationsgeschichte des Stalinismus. Stern erhält eine politische Schulung in Moskau, und erlangt während des Zweiten Weltkriegs Ruhm, weil er 1942 eine „Fallschirmspringer-Jugendbrigade“ gegründet hat, mit der er erfolgreich in Stalingrad kämpfte.

Willert, der nach Kriegsende in seine Heimat zurückkehrt, erkennt diese nicht wieder, da sie als ein sowjetischer Satellit nun die Züge eines Polizeistaates trägt, in dem Überwachung und Denunziation auf der Tagesordnung stehen. Als amerikanischer Staatsbürger sind ihm Kontakte zu Freunden und Bekannten zwar verboten; im Zuge eines Friedensfestivals kann er jedoch seine Heimatstadt besuchen. Während seines Aufenthalts erfährt Willert, dass Bruno Stern zum wichtigsten und gefürchtetsten Mann in diesem totalitären Staat aufgestiegen ist und den Beinamen „Henker“ trägt. Willert, der durch Stern das Schicksal von dessen Schwester Lola in Erfahrung bringen will, in die er als junger Mann verliebt war, wird bei einem Treffen von Stern mit Überwachungsprotokollen konfrontiert, die Willert als Spion ausweisen: „Unser Land wird von Feinden jenseits und von subversiven Agenten diesseits der Grenzen bedroht. Wir müssen auf der Hut sein. […] Aus dieser Abschrift geht hervor, daß du dir Staatsgeheimnisse von außergewöhnlich schwerwiegender Tragweite erschlichen und sie weitergeleitet hast. Darauf steht die Todesstrafe.“ (ST 268) Dennoch lässt Stern ihn ausreisen. Den Epilog des Romans bilden Zeitungsberichte über die „Säuberungen“ in der Tschechoslowakei, in Zuge derer auch Stern bei einem Schauprozess als Verräter und Verschwörer zum Tode verurteilt wird.

Das thematische Zentrum des Romans ist die Verführbarkeit des Intellektuellen durch das totalitäre System, ein Diskurs, dem in der Literatur des Kalten Krieges zentrale Bedeutung zukam. Bemerkenswert ist, dass die Figur des Bruno Stern auf einen Schulkollegen von Wechsberg, nämlich Fritz Gminder zurückgeht, der nach 1945 zum hohen politischen Funktionär in der Tschechoslowakei avancierte und im Zusammenhang mit dem Slánský-Prozess 1951 hingerichtet wurde.

Zitierbar als: Stefan Maurer: Joseph Wechsberg, Der Stalinist (1970). kk-diskurse.univie.ac.at

 


 

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