Institut für Germanistik

Mitterer, Erika: Tauschzentrale (1958)

Wien: Luckmann 1958. (im Text als TZ mit fortlaufender Seitenzahl zitiert)

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Erika Mitterers Roman Tauschzentrale wurde in der zeitgenössischen Kritik als Entwicklungsroman, aber ebenso als Jugend- oder Zeitroman rezipiert. Die Handlung des Romans ist eingebettet in eines der zentralen Ereignisse des Kalten Krieges, den „Ungarischen Volksaufstand“ 1956. Dieser gilt als einer der gefährlichsten Konfrontationen des Kalten Krieges, da mit dem Einsatz von Atomwaffen zu rechnen war und Österreich, das erst im Jahr zuvor seine staatliche Souveränität erlangt hatte, durch seine direkte Grenze zu Ungarn unmittelbar gefährdet schien. Dennoch kommt dem Volksaufstand auf Romanebene nur indirekt Bedeutung zu, er dient vielmehr als eine Kulisse für die Selbstfindungsgeschichte der Figuren. Da sich die Handlungsorte des Romans auf Österreich beschränken, ist das Medium Radio, welchem Mitterer wie in einer griechischen Tragödie die Rolle des Chors zuweist, ein zentraler Faktor der Erzählung. In Form der Radionachrichten sowie Gesprächen der Figuren ist der Aufstand zwar präsent, jedoch stellt der Roman weniger die historischen Ereignisse ins Zentrum als vielmehr deren Widerhall in der österreichischen Bevölkerung. Das Radio schildert zwar die jeweilige Situation in Ungarn, nicht jedoch die Einzelschicksale, sondern das Schicksal des Nachbarvolkes, wodurch auch die Bedrohung der neu erworbenen Freiheit Österreichs, welches 1955 seine Souveränität erhalten hatte, im Mittelpunkt steht. Vor dem Hintergrund des „Ungarischen Volksaufstandes“ entsteht in den Protagonisten und Protagonistinnen des Romans eine neue Werthierarchie.

Hauptfigur ist der fünfzehnjährige Gymnasiast Berthold Brandstetter, ein Scheidungskind, in dem durch Radiosendungen, Gesprächen mit Klassenkameraden und Lehrern sowie aus einem Gefühl der Einsamkeit der Entschluss heranreift, an der „Revolution“ teilzunehmen. Dadurch erhält der Titel „Tauschzentrale“ auf einer symbolischen Ebene Bedeutung, da Berthold versucht, sein altes Leben gegen ein neues einzutauschen. Versteckt auf einem Rot-Kreuz-Wagen, der Spenden der österreichischen Bevölkerung zur Grenze transportiert, erreicht Berthold jedoch nur ein direkt an dieser gelegenes Flüchtlingslager, wo er gemeinsam mit den zwei Töchtern eines Volksschullehrers bei der Versorgung der Flüchtlinge hilft: „Ich hätte mich allein zwischen Feldern und Wäldern umherirren sehen… Gefesselt auf einem Panzer gen Osten rollen… Verwundet oder kämpfend inmitten junger Burschen in einer fremden Stadt… Aber mit zwei kleinen Mädchen im Ziegenstall Schuhe putzen hätt’ ich mich nicht gesehen, nicht, wenn Harun al Raschid mir jeden Abend eine Zukunftsvision aufgewogen hätte mit Gold und Edelsteinen.“ (TZ 178) Der Text wirft auch ein Schlaglicht auf die mit dem Aufstand einhergehenden menschlichen Katastrophen, wie z.B. die Flucht aus Ungarn, die Durchquerung der Minenfelder an der Grenze und auseinandergerissene Familien. Nach dem Scheitern des Volksaufstandes kehrt Berthold enttäuscht aber geläutert nach Hause zurück.

Zitierbar als: Stefan Maurer: Erika Mitterer, Tauschzentrale (1958). kk-diskurse.univie.ac.at

 

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