Institut für Germanistik

Henz, Rudolf: Der Kartonismus. Ein satirischer Roman (1965)

Graz, Wien: Stiasny 1965. (im Text als K mit fortlaufender Seitenzahl zitiert)

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Im Zentrum dieses satirischen Romans steht der kulturelle Kalte Krieg, der sich hier anhand einer neuen, im Osten erfundenen Kunstrichtung, nämlich des „Kartonismus“ entzündet. Der Text verdeutlicht nicht nur, dass die moderne Kunst nach 1945 in das Spannungsfeld der Systemkonfrontation eingebunden war, sondern positioniert sich gleichzeitig sowohl als Abwehr gegenüber modernen Kunstrichtung als auch des sozialistischen Realismus, der von der Sowjetunion als einziger offizieller künstlerischer Stil akzeptiert wurde. Die Satire ergibt sich aus den Tatsachen der von Ost und West betriebenen Kulturpolitik, deren unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe sich am selben Objekt, eben dem „Kartonismus“, begegnen.

Die Handlung setzt mit dem Maturanten und Ich-Erzähler des Romans Hans Hiasl ein, der bei einer Deutsch-Schularbeit aus den Versen Friedrich von Schillers „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben“ die dadaistischen Formel „schnürarsch / arsch“ (K 6) extrapoliert. Daraufhin wird Hiasl nicht nur des Gymnasiums verwiesen, sondern er avanciert zum neuen Literaturstar. Dies verdankt er Klaus Böß, einem berühmten Literaturkritiker und Mitherausgeber einer Literaturzeitschrift, seinem neuen Künstlernamen Hans Uwe Hasil sowie einem Text, den er von Frank Kafka abschreibt und bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb einreicht. Hiasl ist jedoch seines Lebens nicht mehr sicher, als er in einem Dorf nahe der Grenze zur „Vollkommenen Volksrepublik“ (VVR), bei einem unbeabsichtigten Grenzübertritt von Grenzposten, die ihn aufgrund seiner dadaistischen Gedichte für einen Spion halten, verschleppt und mit der Todesstrafe bedroht wird. Rettung verspricht ein neuer kulturpolitischer Kurs, den die VVR eingeschlagen hat: Um den Beweis der Fortschrittlichkeit und Überlegenheit gegenüber dem Westen zu demonstrieren, benötigt man einen neuen „Ismus“, den der junge Künstler erfinden soll. Der von Hasil so genannte „Kartonismus“ (eigentlich stammt die Idee vielmehr von einem Major des VVR-Geheimdienstes), macht ihn schlagartig weltberühmt. Durch den Verkauf dieser Pappkartonskulpturen an den Westen, erhofft sich die VVR ökonomische Verbesserung, vor allem aber ein hohes Maß an Devisen. Hasil, der schließlich eine Aversion gegen moderne Kunst entwickelt und in den Westen flüchtet, zündet seine eigenen Schachtelplastiken, die im Westen im „Museum für heutige Kunst“ ausgestellt werden, an. Daraufhin wird ihm der Prozess gemacht, er wird entmündigt und landet in einer psychiatrischen Anstalt, als bekannt wird, dass er identisch mit dem Künstler Hasil ist.

Die Satire verdankt sich im Kartonismus der Systemkonfrontation des Kalten Krieges, die sich sowohl auf die Kunstauffassungen des Westens als auch des Ostens ausgewirkt hat. Der sozialistische Realismus und die von westlicher Seite propagierte moderne Kunst werden Gegenstand der Parodie. Ein spezieller Aspekt des Romans ist jedoch die Konstruktion, dass der Osten die Positionen der westlichen Kunstrichtungen aus ökonomischem und materiellem Interesse übernimmt. Darüber hinaus bedient sich der Autor Positionen, die in Bezug auf moderne Kunst mit antimodernistischen Ressentiments aufgeladen sind und sich in den Diskursen in Ost und West wiederfinden. So etwa, dass abstrakte Kunst von den Machthabern als Bedrohung oder zur Unterwanderung des gegnerischen Systems mobilisiert wird. Henz thematisiert im Roman auch die Position des Künstlers in der „freien Welt“ bzw. im totalitären System.

Zitierbar als: Stefan Maurer: Rudolf Henz: Der Kartonismus (1965). kk-diskurse.univie.ac.at

 

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