Institut für Germanistik

Gohde, Hermann (= Friedrich Heer): Der achte Tag. Roman einer Weltstunde (1950)

Wien, Innsbruck: Tyrolia 1950. (im Text als AT mit fortlaufender Seitenzahl zitiert)

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Heer schrieb den Roman im Sommer 1949 und zentriert viele seiner Ansichten über Geschichte, Religion und Politik in komplexer Weise, wobei ein dystopischer Weltstaat, in dem Machtgier, Kontrollzwang und skrupellose Ausbeutungspraktiken herrschen, mit der Utopie eines unbeugsamen Urchristentums konfrontiert wird, das im dialektischen Widerspruch zur unmenschlichen Lebenswelt des Romans entsteht und eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive am Ende des Textes motiviert.

Die Handlung besteht aus fiktiven Tagebuchaufzeichnungen des angehenden Politfunktionärs John Percy Brown, der die sieben Tage zwischen 12. und 19. Juni 2074 in Wien auf einer Schulungswoche für „europäische Probleme“ (AT 24) verbringt. Der achte Tag dieses Aufenthalts wird ebenso wie die weitere Zukunft des Ich-Erzählers nicht beschrieben, sondern nur angedeutet. Verschränkt wird diese Zukunftsvision mit der Vorstellung des achten Tages der Schöpfung, an dem der Mensch das Schicksal der Welt in die Hand nimmt.

Diese Reflexion ist Brown am Beginn seiner Aufzeichnungen noch nicht möglich, da ihm das Christentum als „atavistische“ (AT 108), verbotene Lehre nur vage bekannt ist. An die Stelle der Religion ist eine „biologisch-politische[...] Weltanschauung“ (AT 64) getreten. Dem entspricht eine Durchrationalisierung der Produktion, die Menschen, Tiere und Pflanzen als bloßes zweckrational nutzbares Material behandelt („der aktenmäßige Verbrauch von Menschenmaterial“, AT 17). Die Mächtigen innerhalb dieser Gesellschaft zeichnen sich durch Skrupellosigkeit, die Unterdrückung anderer und die richtigen Verbindungen aus. Die Charakteristika dieser Gesellschaft werden deutlich, indem durch die Aufzeichnungen Browns dessen Alltag und Gedankengänge einsehbar werden, wobei ein Verfremdungseffekt entsteht, da die teils erschreckenden Zustände für den Erzähler die Normalität darstellen. 

Der Aufbau des Textes ist in sieben Tagebucheinträge sowie den Eintrag von einem Tag im Jahr 2081 gegliedert, an dem Brown seine Aufzeichnungen an Brüder in Timbuktu weitergibt, die diese verbreiten sollen. In einem Vorspruch dieser fiktiven Herausgeber wird erwähnt, dass Brown ein Jahr später vom Regime zur Arbeit in einem „Arktis-Arbeitslager“ verurteilt wurde, wo er im Jahr 2092 gestorben ist („Vernichtung durch Arbeit“, AT 16).

Die Kraft zur bewussten Devianz gegen das Regime erhält Brown durch eine christliche Untergrundorganisation, die er während seines Aufenthalts in Wien 2074 kennenlernt. Der Fortbildungskurs, den er in dieser Zeit besuchen soll, bietet ein dichtes Programm, das Einblick in die Organisation der dystopischen Welt gibt, die vom BÜRO, der selbsternannten Vertretung der „Menschheitsgesellschaft“ (MG) zentral regiert wird. Er besichtigt das Fabrikskombinat ‚Fergon’, das historische Kunstgegenstände vernichtet, die Wohnbaracken der Arbeiter, eine Fabrikschule, in der die zehn Gebote der MG auswendig gelernt werden, ein Funktionärskasino, wo Drogen und Darbietungen eines durch Menschenhandel erworbenen Kindervarietes konsumiert und Rassendünkel verbreitet werden. Am Folgetag besucht er ein Arbeitslager für Künstler, die Europa-Zentrale des Pressebüros samt Zensurabteilung sowie einen angesehenen Ideologen, der ihn sogleich denunziert, was zu einer Mahnung führt. Am dritten Tag hört Brown einen Vortrag über das Erziehungssystem, besucht die Ausstellung „Kunst des vorwissenschaftlichen Zeitalters“ im Stephansdom (AT 118) und ein Sportfest für die Massen nach dem Vorbild von Gladiatorenkämpfen. Am vierten Tag beobachtet er den Bau einer riesenhaften Wehranlage, der viele Menschenleben fordert, weite Landschaften, die durch intensive argrarische Nutzung, Müllablagerung und moderne Kriegführung nicht mehr verwendbar sind und eine gepflegte Naturinsel für BÜRO-Funktionäre. Am fünften Tag besichtigt Brown nach einem Instruktionsvortrag das zerstörte Rom und das Zentralarchiv, am sechsten „die Versuchsanstalt für Anthropobiologie und biologische Therapie“ (AT 245), wo Menschentypen mit besonderen Fähigkeiten gezüchtet werden und Sanhomia, eine Heilanstalt für Begüterte. Am siebten Tag steht der Wiener Kulturpalast sowie eine Beamtenausbildungsanstalt auf dem Programm. Browns Reiseführerin Tanja Maier ermöglicht Brown während dieser Woche Einblicke in die christliche Gegenkultur, die ihm eine neue Perspektive eröffnet. Um sein Leben zu retten, muss er Tanja denunzieren, sie wird in ein Lager verschickt. Tanjas psychische Stärke, dieses Los auf sich zu nehmen, bestärkt Brown darin, ebenfalls zum Christentum zu konvertieren. Die letzten 18 Jahre seines Lebens gehört er der geheimen christlichen Organisation „Weiße Rose“ (AT 389) an.

Zitierbar als: Doris Neumann-Rieser: Hermann Ghode, Der achte Tag. Roman einer Weltstunde (1950). kk-diskurse.univie.ac.at

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