Institut für Germanistik

Becher, Ulrich: kurz nach 4 (1957)

Roman. Hamburg: Rowohlt 1957. (im Text als knv mit fortlaufender Seitenzahl zitiert)

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Der Roman kurz nach 4 ist im Jahr 1955 angesiedelt, kurz nachdem Österreich als „neuerstandener Kleinstaat“ (knv 66) den Staatsvertrag erhalten hat. Im Mittelpunkt steht Franz Zborowsky, ein bildender Künstler, der aus einer sozialistischen, gutbürgerlichen Familie stammt und sich zum Kämpfer gegen totalitäre Diktaturen wandelt. Auf der Reise nach Rom, während einer schlaflosen Nacht im touristenüberfüllten norditalienischen Piacenza, lässt Zborowsky, verfolgt von einem „calibanischen Lachen“ (knv 84), die Vergangenheit Revue passieren. Als Antifaschist und um seiner Geliebten, der spanischen Diplomatentochter Lolita Aguirre zu imponieren, kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg an der Seite der Internationalen Brigaden. 1940 fällt er den Nationalsozialisten in die Hände, wird im Lager Gurs (Frankreich) interniert, im Konzentrationslager Mauthausen gefoltert und muss sich in einem Strafbataillon der Wehrmacht im Osten bewähren, wo er sich den jugoslawischen Partisanen unter Josip Broz Tito anschließt. Als politisch-engagierter Intellektueller avanciert er im Nachkriegs-Wien zum gefragten Maler und Professor an der Akademie der bildenden Künste. Als er erfährt, dass ihn sein Jugendfreund und Rivale Kuropatkin bei seiner Geliebten Lolita, die von Falangisten hingerichtet worden war, in den 1930er Jahren als Nationalsozialisten denunziert hat, bricht er nach Rom auf, um Kuropatkin, der als Fabrikant selbst ein NS-Kollaborateur war, zu erschießen. Die Erschießungsszene am Ende des Romans entpuppt sich als Vision, Zborowsky, der sich selbst als Exponent einer „halbleergeschossenen Generation“ (knv 96) apostrophiert und zwischen Vergeltung und Versöhnung oszilliert, verzichtet auf seine Rache in einer aufgrund des Kalten Krieges ohnehin apokalyptischen Epoche. 

Der Roman thematisiert die österreichische Zeitgeschichte zwischen 1934 und 1955, etwa den Austrofaschismus, den „Anschluss“ 1938 und auch die Mittäterschaft Österreichs an den NS-Verbrechen. Was als nostalgische Reise auf der Suche nach der Vergangenheit angelegt ist, legt die durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Traumata frei und benennt die gesellschaftlichen Verdrängungsprozesse. Zborowsky empört sich über die nationalsozialistischen Täter, für ihn gibt es die vielzitierte Kollektivschuld nicht. So erschießt er den fiktiven KZ-Kommandanten Alois Mehlgruber, der ihm in der Haft eine „Nasenkonstipation“ (vgl. knv 43) zugefügt hat, und nach 1945 in der Identität eines KZ-Häftlings im Schwarzhandel aktiv ist. Aber auch mit den nach Österreich zurückgekehrten Emigranten, die im Kalten Krieg „verkleidet als Hyperamerikaner, an einem Lästertisch hockten mit ihrer Brüder Henker“ (knv 61), rechnet Zborowsky ab. In kurz nach 4 wird die atomare Bedrohung von Beginn an thematisiert. Zborowsky, dessen künstlerisches Werk von der drohenden Gefahr eines Atomkrieges geprägt ist, will sich keiner der beiden Seiten im Kalten Krieg zuordnen und wendet sich vehement gegen die „Atomkreuzzugsstimmungen“ (knv 61).

Bechers Roman erinnert an den italienischen Neorealismus, aber auch an Orson Welles The Third Man; er bedient sich stilistischer Mittel des Films, wie etwa Überblendungen und scharfer Schnitte. Besonders die erste Hälfte des Textes entfacht mit seinem ständigem Wechsel der Schauplätze, sowie dem Hin und Her zwischen den Zeiten ein spannungsreiches Tempo.

Zitierbar als: Stefan Maurer: Ulrich Becher, kurz nach 4 (1957). kk-diskurse.univie.ac.at

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