Institut für Germanistik

Simmel, Johannes Mario: Lieb Vaterland magst ruhig sein (1965)

München, Zürich: Droemer Knaur 1965.

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In Johannes Mario Simmels Roman Lieb Vaterland magst ruhig sein (1965) sind die Teilung der Stadt Berlin in Form der Mauer bzw. der innerdeutschen Grenze, sowie der Spionagekrieg zwischen Ost und West der narrative Kern der Erzählung. Es ist aber nicht nur dieses Symbol der Teilung, die Simmel thematisiert, sondern auch die Arten der Unterwanderung dieser Grenzen in Form von Republik- bzw. Tunnelflucht, die zu einem Movens der Erzählung werden. Ort und Zeit der Handlung sind Ost- und Westberlin, zwischen August 1964 und Oktober 1964. Ein auktorialer, allwissender Erzähler überblickt die zahlreichen Handlungsfäden und ProtagonistInnen des Romans, darunter Geheimdienstmitarbeiter, Fluchthelfer, Spione, Überläufer aber auch einfache Bürger. Es sind aber nicht bestimmte Charaktereigenschaften, der die Spione in Simmels Text auszeichnet, als vielmehr das zeitgeschichtliche Umfeld des Kalten Krieges. Sukzessive gibt der Roman Einblicke in ein System von offenen und verdeckten Verbindungen zwischen den Figuren, deren Identitäten fortwährend wechseln. Mit uneingeschränkter Androhung von Gewalt wird der Einzelne unter Druck gesetzt, um ihn zum Instrument des Spionagekrieges im geteilten Berlin zu machen.

Der Kleinkriminelle Bruno Knolle, der als Figur in der Tradition des Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) steht, wird, kurz nachdem er wegen eines Einbruchsdelikts aus einem Ostberliner Gefängnis entlassen wird von Wilhelm Bräsig, einem Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR (SSD) instrumentalisiert. Knolle verstrickt sich im Verlauf der Handlung in ein zweifaches Agentennetz: Er soll durch einen Fluchttunnel, dessen Bau Simmel detailliert, bis hin zu den Kosten beschreibt, in den Westen flüchten, um dort – gemeinsam mit einem ehemaligen Komplizen – den Geschäftsmann Otto Fanzelau zu verschleppen, der als Financier der Tunnel gilt. Allerdings wird Bruno vom Westberliner Kriminalrat Berthold Prangel „umgedreht“ und arbeitet für das Counter Intelligence Corps (CIC), welches unter der Leitung von A.C. Snowden, die Entführung nutzen will, um Ost-Spione festzunehmen. Schlussendlich stellt sich jedoch heraus, dass der SSD, unter der Leitung von Peter Wieland, der eigentlich für den CIC arbeitet, jedoch ein Maulwurf ist, die Fluchttunnel dazu benutzt seine Spione in den Westen zu schleusen und die Bundesrepublik zu unterwandern. 

An der Figur des Bruno Knolle sowie an dessen Geliebten Mitzi Szapek exerziert Simmel vor, dass sowohl der „unfreie“ Osten als auch der „freie“ Westen mit den selben Methoden operieren, um das Individuum für machtpolitische Zwecke zu missbrauchen. Beide Seiten versprechen Knolle eine „Kneipe“ in Berlin, sowie die Streichung seiner zahlreichen Vorstrafen wegen Einbruchs. Knolle wird zwischen den beiden Systemen „zerrieben“ und zuletzt dann, kurz vor dem Ziel, dennoch – wegen eines lange zurückliegenden Verbrechens – verhaftet.

Zitierbar als: Stefan Maurer: Johannes Mario Simmel, Lieb Vaterland magst ruhig sein (1965). kk-diskurse.univie.ac.at

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